Konfusion im Koalitions-Karussell, der Wählerwilli hat sich geringfügig vertan

Konfusion im Koalitions-Karussell, der Wählerwilli hat sich geringfügig vertan Twain Mark es ist leichter menschen zu taeuschen qpressDer ideelle Gesamtwähler hat gesprochen. Nachdem er über Monate gewissenhaft alle 34 Parteiprogramme durchstudiert, kritisch hinterfragt und abgewogen, sämtliche Talkshows gesehen und die meisten Kommentare und Berichte über Streuselkuchenrezepte, IM-Vorlaufakten, Pädophilie-Debatten der 70-er Jahre sowie über Jagdhütten- und Porsche-Besitzer gelesen und verdaut hatte, kam er zu dem abgewogenen Urteil, dass er eigentlich nur noch eins will: Mutti soll weitermachen. Also gab er sich einen kleinen Ruck nach rechts, aber nicht zu weit, kickte die FDP raus, ließ aber auch die AfD knapp draußen, wenngleich er sie um ein Haar reingelassen hätte. Da hat der ideelle Gesamtwähler gerade noch mal die Kurve gekratzt. Das Ergebnis ist bekannt: Es reicht nicht für schwarze Alleinherrschaft. Fünf Stimmen fehlen. Mutti muss sich umschaun, mit wem sie koalieren will. Sie wird’s doch wohl nicht ohne machen!

Aber findet sich ein Dummer, ihr auf’s Pferd zu helfen? Bisher mauern sie alle, bis auf DIE LINKE. Die schlägt vor, schon mal vorab die tatsächlichen Mehrheitsverältnisse zumindest für die Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns zu nutzen, diesseits aller Koalitions-Arithmetik. Daraufhin Schweigen im Walde bei der SPD, die das angeblich auch will. Doch das ginge zu flott, das muss jetzt erst mal demokratisch und ergebnisoffen und politisch komplett vorurteilsfrei diskutiert werden. Na gut, deklinieren wir das mal durch.

Es gibt ja einige Möglichkeiten. Mutti würde am liebsten mit der SPD. Die aber ziert sich, schon um den Preis hochzutreiben. Peer möchte da nicht vorzeitig Steinbrücken bauen, wo er sich doch auf dem Holzsteg befand, als er vorher vollmundig verkündete, nicht unter Angela in einem Kabinett sein zu wollen. Vielleicht lieber neben oder hinter ihr (das hat er nicht ausdrücklich ausgeschlossen), aber keinesfalls unter ihr. Das kennt er schon, das will er sich nicht nochmal antun. Kanzler will er auch nicht werden, weil ihm das Gehalt zu gering erschien. Sonst könnte er jetzt einen flotten Dreier mit Rot-Rot-Grün hinlegen, die Zahlen würden’s hergeben. Aber da müsste er wortbrüchig werden. Das ist bekanntlich für einen Sozialdemokraten geradezu unmöglich, wie die Geschichte dutzendfach belegt. Ein Zusammengehen mit der LINKEn hat er kategorisch sowas von ausgeschlossen. Wortbruch geht gar nicht, da könnte er den Wählern nicht mehr in die Augen schauen. Die sieht er zwar die nächsten vier Jahre sowieso nicht mehr, aber der Ude aus Bayern, der gescheiterte „Ministerpräsident, der Wort hält“, wäre doppelt blamiert bei einem Wortbruch. R2G scheidet also aus, obwohl es eine knappe Mehrheit dafür gäbe. Eine linke Reform-Regierung müsste ja auch Dinge tun, die dem Promotor der Agenda 2010 völlig gegen den Strich gehen. Es war schon schwierig genug für ihn, links der Mitte zu fischen. Hat auch wenig gebracht.

Obwohl’s schon praktisch wäre mit der SPD, und der verantwortungsbewusste Gesamtwählerwilli geht ohnehin davon aus, dass eine Große Koalition allemal am besten wäre. Obwohl auch dafür Wortbrüche vonnöten wären. Von Ablösung ist jedenfalls keine Rede mehr. Davon dürfte auch die Regierungschefin ausgegangen sein. Doch wäre es für sie überhaupt klug, alle sozialen Grausamkeiten, die zweifellos noch ausstehen, allein zu verantworten? Noch dazu allein mit Horsti, der täglich dreimal rosenkranzmäßig wiederholt, dass er ohne Maut für Ausländer keinen Koalitionsvertrag als Inländer unterschreibt, zumal die Bayern ja eigentlich auch eine eigene Nation sind?! Um in Europa weiterhin kräftig aufzumischen, braucht sie nicht nur eine knappe Minderheit, sondern eine zuverlässige, solide, möglichst große Mehrheit, die größtmögliche. Die Kluft zum restlichen Europa soll doch auch deutlich zementiert erscheinen. Knappe Mehrheiten würden individuellen Wankelmut bei Abstimmungen nur unnötig befördern.

Da scheint es doch angeraten, sich noch jemanden ins Boot zu holen, der die zu erwartenden Proteste dämpfen hilft, die Gewerkschaften besänftigt und etwas soziale Abfederungskosmetik mit ins Spiel bringt. Wer wäre da besser geeignet als die gute alte Tante SPD, die sich 150 Jahre nach Bebel rotzfrech hinstellt und bekennt: Wir haben uns mit der Agenda 2010 nicht geirrt, wir sind sogar stolz darauf, doch sehen wir an manchen Stellen Korrekturbedarf, weil die Auswirkungen am Arbeitsmarkt doch etwas verheerend ausgefallen sind. Solche selbstkritischen Figuren, die ihre eigene Politik als partiell korrekturbedürftig hinterfragen, braucht eine Kanzlerin, die als alternativlos dastehen will. Gerade, wenn das soziale Elend gar nicht korrigiert werden soll. Dabei finden noch 55 Prozent, dass es gerecht zugehe in Deutschland.

Die zum Allerletzten entschlossenen Genossen gaben sich in den bisherigen Jahren wirklich Mühe, nicht als „vaterlandslose Gesellen“ zu gelten, sondern eine verantwortungsbewusste, staatstragende Partei zu geben, die sich bis zur Selbstmarginalisierung für die Interessen der Großen und Mächtigen, der Schönen, Reichen und Wichtigen in die Bresche geworfen hat, mit dem Hinweis ans Wahlvolk, den Sozialstaat nur retten zu können, indem man ihn zusammenstutzt. Die SPD hat getreu das Ulbrichtwort beherzigt, den Kapitalismus zu überholen ohne ihn einzuholen. Sie machte die Kärrnerarbeit für die Konservativen, die dann die Früchte ihrer Aufopferung ernteten. Sie gab den Notnagel des Kapitals, den Arzt am Krankenbett der wankenden Banken. Den Hilfskanonier in Schützenhilfe für die NATO. Den Ausputzer. Den Gaslaternenputzer. Soll das alles umsonst gewesen sein? Aber gemach!

Was ist mit Schwarz-Grün? Das mag der Seehofer überhaupt nicht. Die Grünen eigentlich auch nicht wirklich. Aber wer sagt schon, dass in der Politik danach gefragt wird, ob jemand was nicht mag. Wenn es danach ginge, würde allein der Suppenkasper regieren. Die Suppe, die der Wählerwilli sich eingebrockt hat, muss jetzt ausgelöffelt werden. Aber Horsti will nicht einmal reden mit den Grünen. Das würde schwierig am Kabinettstisch. Das gäbe permanenten Kleinkrieg. Schon um die Frage, wer als erster nichts sagen darf. Zwar haben die Grünen nichts Prinzipielles mehr gegen Krieg, stehen der Union auch in einigen anderen Fragen nicht direkt feindselig gegenüber, würden sich aber rein lebensstilmäßig nicht wohlfühlen, den Ekelfaktor einer Koalition unter Mutti überwinden zu müssen. Grüne sollten sich von Haus aus nicht leicht tun Kröten zu schlucken, schon aus Tierschutzgründen. Lieber Töten für Kröten. Aber Seehofer will ja auch nicht gleich Krieg, sondern nur Schlagbäume errichten und Geld einnehmen durch eine Maut für Ausländer. Die müssten allerdings auch NATO-Bündnispartner latzen. Das wird wohl nichts mit den beiden.

Mit der LINKEn würde es auch schwierig werden. Zwar brächte sie sogar noch einen Sitz mehr ein als die Grünen, doch haben weder CDU noch CSU ein Interesse daran, überhaupt keine Kriege mehr führen zu dürfen. Allerdings ausgeschlossen haben sie niemals nichts gegenüber der LINKEn. Sie haben sich einfach darauf verlassen, dass das Undenkbare die Unmöglichkeit garantieren würde. Aber ist die Maut gegen Ausländer nicht auch unmöglich, rein europarechtlich? Was ist schon unmöglich in der Politik? So ziemlich alles, was dabei herauskommt, ist eine Zumutung, und erscheint den meisten Menschen als schlicht „unmöglich“. Immerhin ist DIE LINKE jetzt drittstärkste Kraft im Bundestag (da muss der Gesamtwähler irgendwie nicht aufgepasst oder einem aufmüpfig oppositionellen Impuls nachgegeben haben), und hat in ihren Reihen nach wie vor einen Dietmar Bartsch, der unter gewissen Bedingungen über Blauhelmeinsätze durchaus nachzudenken bereit ist. Allerdings sind die „UN-Friedenskrieger“ in seiner Partei noch längst nicht mehrheitsfähig und auf absehbare Zeit auch nicht willig, von ihren Gerechtigkeits-Forderungen abzurücken.

Regierungsfähigkeit garantiert dies mit Sicherheit keine. Sie würden noch eher völlig unerwartet einem Krieg zustimmen als mit CDU/CSU ins Bett zu gehen, am Ende noch einem Klassenkrieg von Unten gegen Oben, wenn sie denn von außen durch die Umstände dazu gedrängt würden. Umgekehrt tobt der ja längst, aber DIE LINKE würde sich da völlig falsch positionieren und munter querschießen. Klassenkampf mit der LINKEn gegen die arbeitende oder arbeitslose Bevölkerung ist also keine in Frage kommende Option für eine regierungsfähige Koalition. Solche Leute, die nicht einmal Waffenxporte in Krisenregionen billigen wollen, also dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, können nicht die Außenpolitik einer Möchtegern-Großmacht verlässlich mittragen. Besser nicht, für alle Seiten besser.

Was bliebe sonst noch? Piraten sind nicht drin, und an die „Sonstigen“ ist auch kein parlamentarisches Herankommen. Die Stimmen der AfD sind verloren, und auch mit Bernd Lucke aus Winsen an der Luhe wäre kein Staat zu machen, solange er von „Entartung der Demokratie“ faselt. Zwar gäbe Olaf Henkel ein repräsentatives Bild ab auf der Regierungsbank (man kennt ihn aus diversen Talkshows besser als Angela Merkel), doch als Finanzminister wäre er nicht gerade der Richtige, um dem Euro zum Durchbruch und der deutschen Exportwirtschaft zum endgültigen Triumph zu verhelfen. Denn ein Deuro wäre einfach viel zu teuer, weil immens aufgewertet. Doch was anderes als Finanzminister hätte er bestimmt nicht werden wollen. Glück im Unglück quasi für Angela, dass diese Option nicht infrage kommt bei aller Konfusion.

Bleibt also nur die SPD. Mit der gäbe es soviel zu verschlimmbessern, die ganzen Auswüchse der Agenda 2010. Leiharbeit, schlimm-schlimm, da müsse man nachbessern! Steinbrück könnte nur betreten nicken. Vielleicht überlässt er den Abnicker-Job auch einem Anderen. Es gibt ja genug solche Abnicker in der SPD. Sie besteht fast nur noch aus Abnickern und Jasagern, wenn es um Kriegsmandats-Verlängerung, um Bankenrettung oder irreversible ESM-Installierung geht. Wie soll das gehen ohne SPD? Denn die FDP gibt es im Bundestag nicht mehr. Totalausfall. Direkt aus der Regierungs-Verantwortung ins parlamentarische Aus geplumpst! Es hat mal wieder alles nichts genützt. Die FDP ist draußen. Nicht genug Leihstimmen bekommen. Die CDU-Wähler sind geizig geworden. Nun fehlen der Wahsiegerin knapp zehn Prozent konservative Stimmen. Damit hätte sie eine komfortable absolute Mehrheit gehabt. Ein Drama für Mutti.

Vielleicht muss sie einfach noch fantasievoller werden als nur in der Auswahl ihrer Blazer. Einfach mal neu durchmischen, zum Beispiel: Was wäre denn eigentlich mit einer Koalition aus CDU, Linken und Grünen unter Duldung der CSU (aber bitte stillschweigend!)? Schäuble hat schon mal durchblicken lassen, dass er Steuererhöhungen (für Spitzenverdiener) nicht ganz ausschließen wolle. Das träfe sich mit den Ambitionen von Grünen und LINKEn, die Reichen und Superreichen endlich mal zur Kasse zu bitten. Was die CSU jedoch kaum dulden würde. Dabei wäre das erfrischend neu mit Gysi als Vizekanzler und Plauderminister, Trittin als Rücktrittsminister, Seehofer als Duldungs-Hilfsstaatssekretär, Claudia Roth für das Betroffenheits-Ministerium und Brüderle vielleicht noch als Regierungssprecher, weil der anderweitig sowieso nicht mehr vermittelbar ist. Bei seinem Genuschel verstünde man nicht so genau, was ohnehin kaum zu verstehen wäre. Merkels Königskanzleramt wäre zugleich Europa-Regierung, was in Brüssel vieles verbilligen würde.

Das von-der-Leih-Ministerium könnte bei verwaisten und vakanten Kommissar-Posten mit qualifiziertem frisch arbeitslos gewordenem Personal behilflich sein, zeitlich befristet, versteht sich. Auch der Bundestag könnte locker nebenbei Europarlaments-Sitzungen gegen geringes Aufgeld absitzen. Ein Sparprogramm vom Allerfeinsten! Damit könnte den Nichtwählern sogar noch eine Enthaltungsprämie gezahlt werden aus den eingesparten Diäten. Belgien hat es doch vorgemacht: Es geht auch ohne Regierung, über lange Zeiträume sogar. Vielleicht wäre das die (Er-)Lösung von kleineren und größeren Übeln. Das Üble daran ist: Die grauen Herrn von den Kartellen warten schon im Hintergrund darauf den Laden komplett wahllos zu übernehmen. Ihr direkter Zugriff auf die Staatskasse durch eine Expertenkommission wäre allemal einfacher und sicherer zu gewährleisten als mit umwegiger Lobbyarbeit an unzuverlässigem Parlamentspersonal.

Egon Bahr (91) steuerte noch eine weise Variante bei (in der Bild-Zeitung): Gar keine Koalition. Alle Parteien könnten so ihre Identität behalten, ohne sich zu verbiegen, und sich von Fall zu Fall zu Gesetzgebungen zusammenfinden. Kleiner Haken dabei: Die Bundeskanzlerwahl müsste auf jeden Fall binnen 30 Tagen nach der Wahl eine irgendwie geartete Mehrheit ergeben. Vielleicht sollte ein Hinterbänkler ran, den niemand kennt, und auf den sich alle verständigen könnten als Platzhalter. Wäre mal was ganz anderes.

Was hat er da nur angerichtet, der ideelle Gesamtwähler!? Er ist schon ein seltsames Subjekt. Was er sich einbrockt, muss er auch auslöffeln. Nun hat er sich an Muttis Hosenanzugsaum geflüchtet, in der Hoffnung, dass es nicht noch schlimmer kommen solle als eh schon, und der Nicht- oder Ungültig-Wähler hat mit seiner Enthaltung dafür gesorgt, dass dies mit weniger Stimmen möglich war, als wenn er was anderes gewählt hätte. Nicht gerade souverän, diese Nicht-Entscheidung, dem allgemeinen Wählerwillen freien Lauf zu lassen, ohne seinen eigenen zu artikulieren! Als wäre es nicht schwer genug, nach Interessenslage taktisch, praktisch und richtig zu wählen.

Konfusion im Koalitions-Karussell, der Wählerwilli hat sich geringfügig vertanJede/r Wahlberechtigte hat nämlich ach, zwei oder vermutlich mehr Herzen in der Brust. Glaubt man dem Wahl-o-mat, könnte man selbst als LINKE-Wähler noch vieles andere gewesen sein: Ein halber Nazi, ein Zweidrittel-Sozi, ein Dreiviertel-Grüner, ein Drittel-Alternativ-Deutschländer oder ein Beinahe-MLPD-Wähler oder genausogut ein Pirat, nur kein 100-prozentiger LINKs-Wähler. Kein Wunder, dass der Gesamtwähler, statistisch in 61,8 Millionen multiple Persönlichkeiten gespalten, kein reiner CDU-Wähler sein kann, und dennoch als solcher herhalten muss.

Nun bekommt er (das ist eben sein schwer zu kalkulierender und am Ende doch ziemlich unerheblicher Gesamtwählerwille) voraussichtlich eine Koalitionsregierung, die er zu 57 % angeblich haben wollte, so aber gar nicht wählen konnte. Die jedoch irgendwie zu erwarten stand nach all der parteiübergreifenden Nicht-Opposition außer der LINKEn. Dass diese selbst bei herben Stimmenverlusten die ebenfalls gebeutelten Grünen noch knapp überflügeln können würde, stand indes kaum zu erwarten. Insofern gab es doch noch eine kleine Überraschung im Psychogramm des ideellen Gesamtwählers. Zu mehr hat es nicht gereicht.

Also heiter weiter so in eine immer schwärzer werdende Zukunft der Republik, die auch für Europa wenig Hoffnungsschimmer ausstrahlt. Die Banken haben wieder mal gewonnen. Ihre Einleger und Eigentümer müssen (noch) nicht befürchten, für ihre Krise selbst bluten zu müssen. Die Gesamtheit der souveränen Wahlberechtigten und Steuerpflichtigen darf sie kollektiv für die nächsten vier Jahre wieder vor dem Kollaps bewahren, fraglos ungefragt.

von Wolfgang Blaschka

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4 Kommentare

  1. Es hätte dem Autor sicherlich gut gestanden, wenn er sich einmal informiert hätte, was exakt Herr Lucke mit „Entartung der Demokratie“ gemeint hat.

    • Das ganze Lucke-Zitat lautet: „Wir haben die Demokratie ertüchtigt, nachdem man soviel an Entartung von Demokratie und Parlamentarismus erlebt hat“. Er sprach tatsächlich von „Entartung“. Du entsinnst Dich vielleicht der unsäglichen Nazi-Ausstellung „Entartete Kunst“ im Münchner Hofgarten; zumindest aus den Geschichtsbüchern sollte sie Dir ein Begriff sein. Dort wurden zeitgenössische Werke Bildender Kunst der Moderne, insbesonders abstrakte Malerei der öffentlichen Verhöhnung durch ein konservatives, borniertes Publikum preisgegeben, dann teils konfisziert, um sie auf dem Internationalen Kunstmarkt zu Geld zu machen, und teilweise unwiederbringlich vernichtet. Ähnlich erging es der als „artfremd“ verfemten Literatur und der als „undeutsch“ gebranntmarkten Musik, nicht nur Zwölftönern. Der Begriff „entartet“ ist eindeutig dem Vokabular der Nazis entlehnt, und wurde von denen auch für die politischen Verhältnisse der Weimarer Republik generell benutzt, die sie rückblickend verächtlich „System-Zeit“ nannten. Wer heute mit solchen historisch belasteten Begrifflichkeiten unkritisch oder gar absichtsvoll hausieren geht, um Wählerstimmen einzuheimsen, führt alles andere als „Demokratisches“ im Schilde. Er macht vielmehr die Sprachhülsen aus dem braunen Wortschatz der Hitler-Diktatur wieder salonfähig. Was Lucke im Einzelnen genau damit meinte, weiß ich natürlich nicht. Es sollte ja wohl möglichst offen bleiben und als nebulöse Drohung für künftige „Ertüchtigungs“-Kuren an der parlamentarischen Demokratie dienen. Da müsstest Du ihn schon selber fragen. Ich weiß nur, was er außerdem sagte: „Wir haben die anderen Partei das Fürchten gelehrt“.

      Und nicht nur die Parteien. Es ist ihm tatsächlich gelungen, am trüben rechten Rand Wählerstimmen zu sammeln. Seine Demagogie zielt darauf ab, den allgemeinen Unmut über endlose „Hilfspakete“ an die Eigentümer hochverzinslicher Staatsanleihen in eine europafeindliche Richtung zu lenken, anstatt offen zu legen, dass die „Euro-Rettung“ oder „Griechenland-Hilfe“ nichts anderes ist als Stützung und verdeckte Subvention für die Besitzer dieser riskanten und daher besonders lukrativen Staatsanleihen, also im Wesentlichen der Banken, ihrer Einleger und Eigentümer, die größtenteils in Deutschland und in anderen „reichen Ländern“ sitzen. Die griechische Bevölkerung sieht davon nichts, es wandert alles umgehend zur Tilgung zurück in den Norden. Schäuble könnte die Milliarden-Beträge gleich direkt an die Hedgefonds und Pensionskassen überweisen, um die südeuropäischen staatlichen Schuldverschreibungen abzusichern und sie samt Zins und Zinseszins zu garantieren.

      Warum er das überhaupt so vehement tut? Weil die deutschen Kapitaleigner davon gigantisch profitieren, die Exportwirtschaft (im Gegensatz zu einer deutlich aufgewerteten D-Mark) vom Euro den größten Nutzen hat (weil sie ihre Ausfuhren künstlich verbilligt), die Bundesregierung dadurch ihre Kontrolle mittels der Troika bis hin zur unmittelbaren Einflussnahme auf die klammen Staatshaushalte der Schuldnerländer ausbaut und mit ihren eisemen Spardiktaten an der Peripherie die wirtschaftliche Dominanz der mächtigen „Deutschland AG“ zementiert. Statt ihn dafür anzugreifen, dass er damit die Wirtschaft der verschuldeten Länder stranguliert und es damit faktisch verunmöglicht, dass diese jemals wieder auf die Beine kommen, was ohnehin schwierig genug bis unmöglich wäre auch ohne die oktroierten Kahlschlags-Maßnahmen, verführt Lucke seine potenzielle Wählerschaft dazu, sich gegen die griechische, spanische, portugiesische, irische und italienische Bevölkerung zu positionieren mit den Scheinargumenten, diese hätten „über ihre Verhältnisse gelebt“, seien einfach zu wenig arbeitssam, zu bequem oder gar zu faul, ihre maroden Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen, um ihre Auslandsschulden (resultierend aus Import-Überschüssen) zu begleichen. Dabei sind doch die Defizite in den Staatshaushalten der Schuldnerländer zum Großteil genau Ausdruck von deren neoliberaler Standortpolitik, wie sie auch hierzulande praktiziert wird, die nämlich die Reichen schont und die Bevölkerung in Lohnsenkung und Arbeitslosigkeit drückt.

      So zahlen beispielsweise die weltweit agierenden griechischen Reeder immer noch kaum Steuern, während hierzulande der Spitzensteuersatz gesenkt wurde und keine Vermögenssteuer mehr entrichtet wird wie noch unter Kohl, und auf der anderen Seite das deutsche „Jobwunder“ schlichtweg darin besteht, dass marginale und prekäre Jobs (unbezahlte Praktika, befristete, schlecht bezahlte Teilzeit- und Leiharbeits-Verhältnisse) auf über ein Viertel aller Erwerbstätigkeiten ausgedehnt wurden. Was insgesamt die Einkommen und damit die Binnenkaufkraft tendenziell sinken lässt, wodurch manche schon zu zwei oder drei Jobs genötigt sind, um über die Runden zu kommen ohne Aufstockung durch Hartz IV. Die Armen arbeiten sich durch miese Löhne regelrecht arm, und die Reichen besitzen sich ohne eigenes Zutun reich. Das ist das Grundproblem: Gesellschaftliche Produktion bei privater Aneignung. Vergesellschaftung der Defizite und Privatisierung der Gewinne. Ausverkauf des staatlichen „Tafelsilbers“ (z.B. Wohnungen, Filetgrundstücke) zugunsten der Privatisierung. Das ist in Griechenland oder anderswo nicht anders als bei uns. Das kratzt Lucke nicht an, nicht einmal peripher. Dabei ist es die Hauptursache der gegenwärtigen Umverteilung von unten nach oben, hier wie dort. Nur dass es in Deutschland noch kompensiert werden kann durch Exportüberschüsse. Was ja nichts anderes heißt, als dass deutsche Produkte billiger sein können auf dem Weltmarkt im Vergleich, nicht zuletzt wegen des Euros. Will bedeuten, die deutschen Herstellungskosten sind extrem günstig gegenüber anderen Ländern, sprich: Die deutschen Werktätigen verdienen zu wenig. Jetzt könntest Du einwenden: Oder die anderen verdienen vielleicht vergleichsweise zuviel? Da käme ich nicht umhin Dir die Klassenfarge zu stellen: Bist Du Arbeiter oder Kapitalist? Lebst Du vom Verkauf Deiner Arbeitskraft oder vom „Coupon-Schneiden“ als Aktionär? Bist Du arm oder reich? Solltest Du noch an Deiner ersten Million basteln müssen, dann gehörst Du nicht zu denen, die sich vor Lohnerhöhungen fürchten müssten, im Gegenteil, Du würdest davon profitieren, selbst als Mittelständler, wenn nämlich die Leute mehr Geld in der Tasche hätten.

      Bricht der Export, dessen größter Teil in EU-Länder geht, drastisch ein, sieht es bald auch für uns hier nach „griechischen Verhältnissen“ aus. Um eine deutliche Umverteilung von unten nach oben kommt man in allen europäischen Ländern nicht herum, soll diese Abstiegsspirale in die Verelendung für die große Mehrheit der Bevölkerung gestoppt werden. Aber das soll sie offenbar gar nicht, auch nicht von Bernd Lucke. Er bedient nur national-egoistische Ressentiments. Die deutschen SteuerzahlerInnen sollen gegen die „Habenichtse im Süden“ ausgespielt werden. Sie sollen sich als „Zahlmeister Europas“ wähnend den Südeuropäern und Iren überlegen fühlen dürfen, weil die Arbeitsmarkt-„Reformen“ seit Rot-Grün die besseren Gewinnoptimierungs-Möglichkeiten für deutsche Kapitalbesitzer eröffnet haben, und sie sollen von den anderen möglichst genau diesselben Sozialdumping-„Reformen“ (Einschnitte) einfordern. Sprich: Verlängerung der Lebensarbeitszeit, „Liberalisierung“ der Arbeitsverhältnisse, „Verschlankung“ des Öffentlichen Sektors (z.B. Entlassung von Finanzbeamten, das gefällt den Reichen besonders gut), harte Lohnsenkungen, Sozialkahlschlag auf breiter Ebene. Dabei gibt es in den meisten betroffenen Ländern noch nicht mal eine Arbeitslosenunterstützung. Die Familienverbände müssen das dann auffangen. Diese asoziale Politik kritisiert die AfD mit keiner Silbe.

      Sie redet nur einem „deutschen Wohlstand“ das Wort, den es längst für nur immer weniger Menschen gibt, weil sich der Reichtum am oberen Rand der Gesellschaft anhäuft. An den will Lucke aber gar nicht ernsthaft heran. Doch ohne den geht’s nicht, weder in den „Defizit-Ländern“ noch in den Export-Überschuss-Nationen. Dazu braucht es wohl eine gesellschaftliche Umwälzung, einen konsequenten Paradigmenwechsel. Das zu verschweigen und zu verkleistern mit einer Polemik gegen den Euro nach dem Motto „Rette sich, wer kann“ heißt nur, dem Nationalismus und Protektionismus das Wort zu reden anstatt eine soziale Politik für Europa einzufordern, wie das DIE LINKE konsequent tut. Anders ist die Überproduktions- und die daraus folgende Verarmungs- und Verschuldungskrise nicht zu lösen. Es sei denn, man wolle asoziale Politik betreiben, um das „Goldene Kalb“ noch eine Weile anzubeten, was seinen Zusammenbruch dennoch nicht vermiede. Dumm nur, dass dieses Bersten uns alle unter sich begraben würde, ob wir ihm dienen wollten oder nicht. Wer den Kollaps, die Pleite, das Platzen der Blase herbeiwünscht, wird daran Kollateralschaden nehmen. Wir müssen schon eine Perspektive dagegen setzen, nämlich die der Vergesellschaftung. Sozial is Muss!

      Die bürgerlichen „Ertüchtigungs“-Rezepte kennen wir doch sowohl aus der Geschichte (Notverordnungs-Politik der Weimarer Zeit mit ihren Verelendungs-Auswirkungen auf breiteste Bevölkerungsschichten) in Deutschland als auch aus Griechenland und Italien heute („Experten“-Regierungen, die die brutale, von der Troika diktierte Staatshaushalts-Sanierung auf dem Rücken der Lohnabhängigen durchpeitschen). Immer führen diese „Ertüchtigungen“ in den Abgrund, in „soziale Rosskuren“ oder gar ins „reinigende Stahlbad“ des Krieges. Hüten wir uns vor dem Geschwätz dieser „Experten“, die es sorgsam vermeiden, den Reichen und Superreichen ans Portemonnaie zu gehen! Am Ende bezahlen nämlich alle die Zeche außer denen. Die AfD ist die schlechteste „Alternative“ für Deutschland (und Europa) gegen die transnationale Bankenrettungs-Politik der Übergroßen Koalition. Sie würde sie nur auf den „nationalen Rahmen“ beschränkt sehen wollen, was aber nicht ginge ohne Schuldenschnitt, also Profitverzicht durch die Halter der Schuldscheine. Sollen doch die Kapitaleigner ihre Krise selbst bezahlen! Sie profitierten bisher von ihr, mit gigantischen Summen. Das wäre die richtige Stoßrichtung: Das Kapital soll erzittern, nicht „die Parteien“. Und schon gar nicht die übergroße Mehrheit derer, die ihre demokratischen Rechte verteidigen müssen gegen das große Plündern.

  2. Stimme Toms Meinung zu. Der Autor hat wahrscheinlich die Aüßerung von
    Herrn Lucke im Fernsehen überhört.
    Peinlich, da wäre eine Entschuldigung angebracht.
    Ändert aber nichts daran, dass die AFD ansonsten keine politische
    Zukunft haben wird. Sie hat viele Stimmen von Protestwählern
    erhalten. Die glauben immer noch, dass andere die Zeche zahlen müssen in der EU.
    Ob Herr Lucke, auch noch den fehlenden Friedensvertrag Deutschlands
    bei seinen politischen Ambitionen richtig bewertet- ist noch eine weiteres
    Zahnrad für sein politisches Handeln für die BRD.
    Und Herr Lucke weiß aber genau, dass das Geld bei den Reichen bleiben
    wird und nicht eine soziale Gerechtigkeitsverteilung folgt, zum Abbau der
    immer stärkeren Altersarmut.
    Seine Stammwähler und Mitbegründer kommen ja aus gutsituierten
    finanziellen Kreisen. Da muß man auf die unzufriedenen Anhänger der CDU/CSU und FDP spekulieren und weitere Inhalte der anderen Parteien übernehmen,
    Und dann kommt Muttis Partei und wehrt sich entsprechend, wie er es bereits vehement in der Talk-Show getan hat. Das war eine tüchtige Breitseite,
    die er sich zukünftig nicht mehr leisten kann.

  3. Da unsere Zonen-Schlampe weder Moral noch Anstand besitzt, kann sie praktisch mit jedem kopulieren. Am liebsten wäre ihr natürlich der General-IM-Sekretär. Aber eine Piss-IM-Nelke ist auch nicht zu verachten. Letztendlich wird sie den Anweisungen der bilderbergschen Puff-Mutti folgen. Sie ist halt ein williges FDJ-Mädel geblieben.

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